Man kann sich kaum vorstellen, was in Esra Akpinar und Ergin Aydin vorgeht. Beide haben nahe Freunde und Bekannte bei den verheerenden Beben in der Südosttürkei verloren. Beide haben eine Standleitung in die Region und sorgen für Hilfe. Und beide müssen aber auch gleichzeitig dafür sorgen, dass ihre Unternehmen und die Branche weiter funktionieren.
Aydins Firma Blok Moda in Istanbul produziert unter anderem für Stone Island und Asos. Akpinar ist Geschäftsführerin von Gerry Weber in der Türkei. Beide sind im Textilunternehmerverband TIHCAD aktiv.
"Alles steht hier gerade Kopf", sagt Aydin. Gestern war er noch in Paris auf der Première Vision, dann zurück nach Istanbul. Total aufgekratzt. "Ich war bis halb fünf wach, habe telefoniert, sinniert."
Was hören Sie aus der Region? Esra Akpinar: Die Situation vor Ort ist natürlich im Moment total unübersichtlich. Allein das türkische Erdbebengebiet ist so groß wie Bayern. 13 Millionen Menschen sind direkt betroffen. Wir selbst sind ja in Istanbul und damit 1200 Kilometer weit weg. Hier geht das Leben halbwegs normal weiter.
Wie können Sie trotzdem vor Ort helfen? Ergin Aydin: Die Hilfe wird von staatlichen Organisationen koordiniert, aber wir als Verband und Unternehmer sammeln Spenden und lassen diese in die Region bringen. Teilweise kommen wir allerdings über den Landweg mit Lastwagen nicht durch und haben deshalb auch eine Fähre gechartert.
Was wird denn gebraucht? Nach allem, was wir hören, ist jetzt ausreichend Bekleidung vor Ort. Gebraucht werden vor allem Zelte, Notunterkünfte und Trinkwasser. Wir recherchieren gerade, wie wir den Transport von Trinkwasser organisieren können. Blok Moda Ergin Aydin produziert mit seinem Unternehmen Blok Moda unter anderem für Asos, Stone Island und Mey. Außerdem ist er Präsident des Branchenverbands TIHCAD.
In der Region gibt es auch einige Textilbetriebe. Welche Informationen gibt es zu diesen Unternehmen? Noch nicht viel. Ich denke, es dauert noch zwei bis drei Wochen, bis wir einen Überblick haben. Dort sitzen vor allem Stofflieferanten, von denen natürlich auch einige betroffen sind. Mehr zum Thema Imago / Pacific Press Agency Von Adidas bis Zara So hilft die Branche in der Erdbeben-Region Die Türkei ist einer der wichtigsten Standorte der weltweiten Modeindustrie. Das tragische Erdbeben im Südosten des Landes mit seinen vielen tausend Opfern macht deshalb auch die Akteure der Branche extrem betroffen. Anteilnahme und Spendenbereitschaft sind groß und ziehen sich durch alle Bereiche. Der Versuch eines Überblicks.
Wie wichtig ist denn die Region im Gesamtkontext der türkischen Textil- und Bekleidungsindustrie? Esra Akpinar: Ihre Bedeutung ist überschaubar. Den weitaus größten Anteil am Bekleidungsgeschäft mit über 80% realisieren die drei großen Regionen Istanbul/Marmara, Izmir und Bursa. Die Betriebe in der Erdbebenregion stehen für 14% der gesamten türkischen Produktion, ungefähr zwei Drittel davon entfallen auf Stoffunternehmen, ein Drittel auf Konfektionsbetriebe. „Diese Solidarität gibt es nur in der Türkei, das macht mich stolz. “ Ergin Aydin
Kann dieses Volumen im Rest des Landes aufgefangen werden? Ergin Aydin: Ja, durch die Pandemie und die Energiekrise sind zuletzt Kapazitäten im Land freigeworden, schätzungsweise 20 bis 25%. Das kann also aufgefangen werden. Es haben sich bereits viele Lieferanten aus anderen Regionen gemeldet und angeboten, die Produktion zu übernehmen. Dabei haben sie versprochen, die Preise zu halten, obwohl sie zum Teil höherpreisiger arbeiten. Diese Solidarität gibt es nur in der Türkei, das macht mich stolz. Und ich bin mir sicher, dass die meisten Kunden zwei Wochen Lieferverzögerungen aus diesen besonderen Gründen akzeptieren werden. Wir dürfen als Branche und Unternehmer jetzt auf keinen Fall in Schwermut versinken, sondern müssen kämpfen und möglichst viel Geld verdienen, um dem Land helfen zu können.
Haben Sie selbst schon Signale von Ihren Kunden erhalten? Ja, Asos, Stone Island, Etam und Galeria haben sofort Verständnis signalisiert. Von der Joy-Gruppe haben wir eine sehr schöne und verständnisvolle Nachricht erhalten. Mit Mey haben wir auch sofort kommuniziert, obwohl die Zusammenarbeit mit Mey aktuell gar nicht betroffen ist. Esra Akpinar ist in Istanbul geboren, hat in Mönchengladbach studiert und führt seit vergangenem Jahr Gerry Weber in der Türkei.
Wie viele Ihrer Lieferanten haben Ihren Sitz in der betroffenen Region? Bei uns sind es vier Unternehmen, allesamt Stofflieferanten. Einer von ihnen produziert aktuell für uns, mit ihm habe ich heute Morgen telefoniert. Bei ihm ist alles so weit in Ordnung, wir unterstützen ihn und die Mitarbeiter. Aber die Menschen dort haben Freunde und Familie verloren und natürlich große Angst. Sie stehen unter Schock und trauen sich nicht zurück in die Fabrik. Außerdem sind Versorgungsleitungen für Strom, Gas und Wasser aus Sicherheitsgründen weiterhin abgedreht.
Dort sollte eigentlich eine hochwertige Melange-Wirkware für Stone Island produziert werden. Sie war fast fertig, jetzt lassen wir sie dort erstmal stehen und beschaffen woanders. Stone Island hat bereits signalisiert, dass die Ware später trotzdem abgenommen wird.
Wie ist die Situation bei Gerry Weber? Esra Akpinar: Für uns ist die Türkei neben Bangladesch und Shanghai einer der drei wichtigsten Sourcingmärkte. Wir arbeiten mit rund 20 Betrieben zusammen, zum Teil seit 22 Jahren. In der Erdbeben-Region ist ein Jersey-Lieferant betroffen. Im Moment wissen wir noch nicht genau, was dort passiert ist, wir hoffen, dass die Mitarbeiter gesund sind. „Es ist wirklich schön, diese Hilfsbereitschaft zu erleben. Angelika Schindler-Obenhaus hat mich sofort angerufen und sich erkundigt, im Unternehmen wurde eine Spendenaktion ins Leben gerufen. “ Esra Akpinar
Ist denn der Baumwollanbau bzw. die -ernte in der Region betroffen? Tatsächlich sind die Gebiete um Städte wie Adana, Maras und Urfa wichtige Baumwollanbaugebiete für mittlere Qualitäten. Das ist ja gerade einer der großen Vorteile unseres Landes, dass wir unsere Industrie mit unserer eigenen Baumwolle beliefern können. Etwa 45% der verwendeten Baumwolle in unseren Betrieben kommt aus der Türkei. Was die aktuelle Lage betrifft, rechne ich nicht mit Auswirkungen. Die letzte Ernte fand Ende November statt, die Felder dürften nicht beeinträchtig sein.
Bekommen Sie, obwohl Sie selbst so stark involviert sind, etwas mit von der internationalen Spenden- und Hilfsbereitschaft? Ergin Aydin: Ja, natürlich. Ich fand es toll, gestern im TW-Newsletter zu lesen, dass Inditex 3 Mio. Euro spendet oder dass sich die Mitarbeiter der Galeria-Filiale in Frankfurt zusammengetan haben, um zu helfen. Das berührt mich sehr und freut mich.
Esra Akpinar: Es ist wirklich schön, diese Hilfsbereitschaft zu erleben. Angelika Schindler-Obenhaus hat mich sofort angerufen und sich erkundigt, im Unternehmen wurde eine Spendenaktion ins Leben gerufen. Überhaupt, ist die Anteilnahme in Deutschland groß. Mein Highlight: Ich habe ja in Mönchengladbach an der Textilfachschule studiert, und meine Kinder sind von Geburt an Mitglied bei Borussia Mönchengladbach. Und als ich jetzt las, dass die Borussia Hilfspakete mit Medikamenten schickt, ging mir das Herz auf.
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